Wo steht die Psychiatrie heute

Gottfried Wörishofer, Münchner Psychiatrie-Erfahrene (MüPE) e.V.

Einleitungsstatement für das Podiumsgespräch des Gesundheitsforums der Süddeutschen Zeitung e.V. am 20. Februar 2001 in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität

Thema: „Wo steht die Psychiatrie – und wohin geht sie?“

Aus Sicht von uns betroffenen Patienten muß eine Vorfrage gestellt werden: „Wo steht (heute) eigentlich der psychisch kranke Mensch, der Patient? Die schlichte, unverblümte Antwort lautet: Er steht im Dunkeln – nach wie vor. Er wird überhaupt nicht gesehen. Das normal-menschliche Mitgefühl ist ihm vorenthalten. Er leidet - zusätzlich zu seiner Erkrankung - unter dem geringen Ansehen seiner Person. Im wahrsten Sinne des Wortes: mit einer psychischen Erkrankung kann man sich nur schwer „sehen lassen“. Es ist ziemlich unproblematisch, im Verwandten- und Freundeskreis etwa über eine schwere Nierenerkrankung zu sprechen; die Anteilnahme wird dem oder der PatientIn sicher sein. Eine psychiatrische Erkrankung wird hingegen verschwiegen. Von einer Depression etwa kann man im Grunde niemandem erzählen, der nicht weiß oder erfahren hat, was das ist. Darum bleibt – nüchtern betrachtet – das wirkliche Wissen um diese Dinge auf die Betroffenen selbst, ihre Angehörigen und die Fachleute begrenzt.
Warum wird, auch von uns, die Forderung nach Gleichstellung mit somatischen Krankheiten erhoben? Eine Forderung, die ebenso leicht gestellt wie schwer zu erfüllen ist und der allseits schnell zugestimmt wird, weil sie praktisch keine Konsequenzen erfordert - außer mehr Geld auszuschütten. Warum aber soll man für uns kranke Menschen mehr Geld  ausgeben? Wir haben ja schon für die Krankheiten, welche unser aller Mitgefühl haben, nicht genügend Geld. Die Forderung nach Gleichstellung mit den somatischen Erkrankungen ist  letztlich die Forderung nach ihrer Gleichwertigkeit, nach ihrer sozialen Resonanz, die bisher im Wesentlichen ausbleibt.
Mit Gleichstellung kann wohl auch nicht gemeint sein, um nun auf die Psychiatrie zu kommen, daß die psychischen Krankheiten so behandelt und „gesehen“ werden sollen wie die somatischen. Es wäre ein fundamentaler Irrtum,  w e n n  sie gleichbehandelt würden. Ob bei einer Herzoperation Frau Maier oder Herr Müller unterm Messer liegt, dürfte für das Gelingen des Eingriffs weitgehend egal sein. Es handelt sich um ein standardisiertes Verfahren, das gerade dann eine hohe Qualität aufweist, wenn es den international erarbeiteten Normen entspricht. Ganz anders bei einer psychischen Erkrankung: Hier ist die Person betroffen, also der unverwechselbar gezeichnete Mensch, wie er im Leben steht. Immer ist diese Person das „Operationsfeld“ der psychiatrischen Behandlung. Wenn sie, die Person, verfehlt, d. h., nicht gesehen wird, geht jede „Behandlung“ ins Leere.
Die Entwicklungsrichtung der Psychiatrie müßte folgende sein:
Ärzte und Krankenpflegepersonal, Sozialarbeiter, Psychologen und Therapeuten sollten gemeinsam mit uns Betroffenen und Angehörigen dafür eintreten, daß Strukturen entstehen, die eine personale Begegnung, Behandlung und Befähigung der Patienten ermöglicht:
Was für die somatische Medizin das technische Equipment bedeutet, sollte für die Psychiatrie Zeit sein. Z e i t  muß in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen.
Zeit, die von freundlichen, lernbereiten und kenntnisreichen Therapeuten  zugunsten der Achtung und Befähigung des Patienten verwendet wird. Sie sollten eine Ahnung von existentiellen Abgründen haben und die Begegnung mit leidvollen Erfahrungen allemal dem Ausfüllen von Statistikbögen vorziehen.
Die psychiatrische Diagnose ist, ob gewollt oder nicht, schon Bestandteil der Behandlung, eine Prognose, die ins Elend weist und damit eine zusätzliche, schwere Last beim Bewältigen der Krankheit. Wir bräuchten „helfende Diagnosen“, die bewältigungsorientierte Konzepte ausdrücken.
Die „reinen“ Aufnahmestationen in den psychiatrischen Kliniken gehören auf den Prüfstand. Sie stellen eine Streßgemeinschaft besonderer Art dar, weil sie in Funktionalismus und Effektivität ausweichen und nicht am personalen Geschehen orientiert sind. Dieses wird unabsichtlich und doch systematisch untergraben: Viele Akutkranke - auf einer Station konzentriert - lassen Mitarbeiter die Geduld verlieren und zu Gewalt und höheren Neuroleptikadosen greifen. Der Patient macht die Erfahrung einer entwürdigenden Behandlung und meidet künftig die Psychiatrie, obwohl er sie vielleicht später nötig bräuchte.
Als zentraler Bestandteil menschlicher Existenz gilt uns allen die Arbeit. Psychisch Kranken wird sie – wie übrigens auch anderen Gruppen – vorenthalten bzw. in nicht adäquater Weise angeboten. Genesungsfördernde Arbeit muß sich an Begabungen orientieren.
Dies stellt selbstredend keine erschöpfende Liste der nötigen Entwicklungsaspekte dar; das meiste und vielleicht auch sehr Wichtiges blieb unerwähnt. Eines aber muß an dieser Stelle noch gesagt werden: Ob die Psychiatrie in Zukunft schöpferische Kräfte zugunsten der Patienten entfalten wird, hängt nicht zuletzt von ihrer Bereitschaft ab, wieder zusammenzuführen, was zusammen gehört! Das Psychische mit dem Stoffwechsel, das Geistige mit dem Sozialen und auch... das Ambulante mit dem Stationären.